Das kleine Bistro wollte nicht aufhören, sich zu drehen. Gunnar hielt sich an der Tischkante fest, obwohl er wußte, wie seltsam das für die anderen Gäste aussehen mußte.
"Was ist mit dir?" Elke schaute ihn erschrocken an. "Du bist ganz blaß geworden." Er konnte nicht sofort reagieren. Sie saß ihm direkt gegenüber, aber er sah sie wie in weiter Ferne hinter einem blaßblauen Nebel. "Haaaallo!" rief sie jetzt in gespielter Verzweiflung und wedelte mit beiden Armen. "Erde an Gunnar, Erde an Gunnar, bitte melden!" Dann, etwas besorgter: "Gunnar?"
Aber er hörte sie kaum. Stattdessen gellten in seinen Ohren die Schreie, von denen er heute früh wach geworden war. Traumschreie. Zuerst die der brennenden Kinder. Dann seine eigenen, als er zu sich gekommen war, schweißnaß im Bett sitzend. Die lebhafte Erinnerung an den Alptraum hatte ihn nicht wieder einschlafen lassen, obwohl es erst kurz nach drei gewesen war. Und nun hatte sie ihm erzählt, daß in den frühen Morgenstunden in ihrer Nachbarschaft zwei Kinder bei einem Wohnungsbrand umgekommen waren.
"Gunnar!"
"Schon in Ordung", murmelte er. Seine Hände umkrallten noch immer die Tischkante. Festhalten. Details aufnehmen. Den Nebel durchdringen und sich in die Wirklichkeit zurückholen. Das hier war WIRKLICH.
Aber die Unwirklichkeit begegnete ihm, wohin er auch seine Aufmerksamkeit richten wollte. Zwei Männer von GoGo, dem Radiosender im Nordflügel, drängten am Tisch vorbei, aufgeregt diskutierend. Mit der Redaktion hatte Gunnar in seinem Job praktisch nichts zu tun, aber eine der beiden Stimmen war ihm aus den Skandal- und Reality-Meldungen der täglichen Frühnachrichten so sehr vertraut und verhaßt, daß er den Sprecher sofort als Wolfgang Kreisler erkannte. Allerdings hatte Gunnar hinter dieser Stimme immer einen drahtigen Menschen von dreißig Jahren vermutet, nicht diesen verfetteten Glatzkopf. Ihn mit dieser Stimme sprechen zu hören, war irritierend wie ein schlecht synchronisierter Film. Kreisler fluchte jetzt mit zusammengebissenen Zähnen vor sich hin. Vom Nebentisch drangen Gesprächsfetzen von Kollegen aus der Multimedia-Entwicklungsabteilung herüber. "...an der Stelle der Bitmap-Übertragung dreht sich der Control-Zwerg, der kann ja da durch die Wand schlüpfen, und das andere kleine Sensibelchen, weißt du, die Elfe..."
Gunnar suchte nach etwas Profanem und Faßbarem im Raum, um sich innerlich daran festzuhalten. Die Radioleute holten Kaffee am Tresen und zahlten mit einer dieser aufladbaren Kundenkarten, deren System er noch nie ganz durchschaut hatte. Immer, wenn er aus seiner Außenstelle hierher in die Zentrale von Telemedia kam, mußten die Kollegen seinen Kaffee mitbezahlen, weil er keine Karte hatte und Barzahlung hier nicht funktionierte. Auch heute hatte er sich von Elke einladen lassen müssen.
"Tut mir leid, wenn ich dich mit der Brandgeschichte aus der Fassung gebracht habe", sagte sie, und er stellte fest, daß er sie wieder dort sah, wo sie war: ihm gegenüber an diesem kleinen Bistrotisch. Kein Nebel mehr. Kein Qualm. Keine Schreie. Ihre weißgefärbten Igelhaare mit der grünen Strähne leuchteten ihn an.
"Schon in Ordnung", sagte er noch einmal. "Es ist nur..."
Sie wartete geduldig, während er überlegte, ob er ihr wirklich erzählen konnte, was er dachte. Bestenfalls würde sie ihn für etwas seltsam halten. Vielleicht aber auch für völlig durchgeknallt. Er selbst hatte früher für das, was er jetzt durchmachte, ein ebenso unwissendes wie vernichtendes Wort parat gehabt: Realitätsverlust.
Fast eine Minute verging. Am Nebentisch hatte der Control-Zwerg irgendeines interaktiven Abenteuerspiels inzwischen sein Waffenarsenal um eine magische Lampe erweitert.
"Es ist nur... was?" fragte Elke. Sie sah ihn an, und etwas in ihrem Blick war nahe und sachlich genug, um ihn das Unmögliche aussprechen zu lassen.
"Vielleicht habe ich die Kinder auf dem Gewissen", sagte er.
Sie lehnte sich zurück und runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Er begann mit dem Papierfetzen zu spielen, aus dem sie ihren Würfelzucker gewickelt hatte.
"Ich war zwar in Bremen, und das abgebrannte Haus stand in Hannover", fuhr er fort. "Dazwischen liegen rund hundert Kilometer. Aber ich habe alles gesehen und gehört. Oder irgendwie empfangen. Naja... Zumindest gedacht. Oder mir vorgestellt." Er machte eine Pause. Das Zuckerpapier wurde zur Kugel. Elke wartete.
"Oder verursacht", sagte er schließlich.
"Laß mich das mal in meine Worte fassen", erwiderte sie ein wenig ungeduldig. "Du hast in Bremen an ein brennendes Haus gedacht, und in Hannover hat es gebrannt. Richtig?"
"Ich habe geträumt", korrigierte er. "Ich habe Kinder gesehen, die große Angst hatten, weil ein Feuer sie eingeschlossen hatte. Ein Mädchen und einen Jungen. Und sie hatten keine Chance."
"Du willst sagen, du hast die ganze Katastrophe geträumt, während sie passierte?" Elke schien bemüht, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, ohne ihn gleichzeitig als Spinner hinzustellen. Er rechnete ihr das hoch an.
Ihre hellen Augen wollten ihn offenbar festhalten, damit er nicht zu weit abdriftete. Er hatte eher das Gefühl, stattdessen würde er sie mitreißen in die seltsame Dimension, mit der er gegen seinen Willen Bekanntschaft gemacht hatte.
"Nein", sagte er und schnipste die Papierkugel weg. Sie hüpfte über die Tischkante und verschwand zwischen den Rippen des arbeitslosen Heizkörpers unter dem Fenster. Draußen glänzte ein heller Sommervormittag. Der große Boss Stefan Mahler eilte am Fenster vorbei, wie immer untadelig im dunklen Anzug und mit blütenweißem Hemd. Er ließ einen GoGo-Übertragungswagen passieren, überquerte die Einfahrt und schloß einen schwarzen BMW auf.
"Nicht während", sagte Gunnar. "Sondern bevor. Bevor es brannte."
"Wie willst du das wissen?"
"Du hast es mir gerade gesagt. Du hast erzählt, im Radio hätte es geheißen, der Brand wurde kurz vor vier Uhr entdeckt."
"Richtig."
"Aus dem Traum bin ich kurz nach drei aufgewacht."
Elkes Gesichtsausdruck wurde ein wenig angestrengter. Er kannte das. So reagierten alle, denen er von seinen besonderen Erlebnissen berichtete. Nicht daß es schon viele gewesen wären, oh nein. Er hatte es sich immer reiflich überlegt, ob er es nötig hatte, sich für verrückt erklären zu lassen.
"Zufall", sagte sie dann entschieden, während sie ihren Kaffee umrührte. Aber als seine Antwort auf sich warten ließ, wurden die Kreise, die ihr Löffel beschrieb, immer hektischer.
Wenn er jetzt lachte und nach einer flapsigen Bemerkung das Thema wechselte, könnte noch immer alles wie vorher sein. Wie vor knapp zehn Minuten, als Elke ihn im Großraumbüro zu einer späten Frühstückspause eingeladen hatte. Komm, ich muß dir mal erzählen, wie mich heute früh der Ropka schon fertiggemacht hat. Ein Vormittag wie so viele. Seine Besuche hier in Hannover unterlagen einer Art Standardprozedur. Schritt Eins: Business as usual mit Art Director Chris Ropka und Managing Director Stefan Mahler. Verkaufszahlen und Kundenreaktionen. Schritt Zwei: Kurze Konferenz und langer Smalltalk mit den Programmierern im Computerlabor der Lyrasoft GmbH. Schritt Drei: Ein Blick auf die neuesten Software-Spielereien der Firma, und dann Schritt vier - wie jetzt - ein kurzer Besuch im Bistro der Telemedia-Gruppe, mit dem einen oder anderen Kollegen. Heute war es zufällig Elke aus der GoGo-Redaktion. Sie brauchte ganz offensichtlich nach einem Streit einen unbeteiligten Gesprächspartner, hatte Gunnar aus dem Großraumbüro ins Bistro gelotst, knirschte dabei die ganze Zeit mit den Zähnen und schimpfte über Chris Ropka, der ihr bei der Arbeit ständig Steine in den Weg legte. Es ist eine Schande, daß der mir überhaupt etwas zu sagen hat, hatte sie gewettert. Was hatte so ein Kreativ-Fuzzi überhaupt mit der Radioredaktion zu tun? Unser Programm verkommt mehr und mehr zur Litfaßsäule:Wir bringen bald nur noch Nachrichten, für die sich ein Sponsor finden läßt, hatte sie gestöhnt. Ich will nur noch eins: weit weg sein von hier. Auch das war noch ein gewohnter Programmpunkt - ständig und immer hatte hier irgend jemand die Schnauze voll. Spätestens am frühen Nachmittag war Gunnar normalerweise auf dem Heimweg in sein Bremer Verkaufsbüro: Schritt fünf.
Normalerweise.
Heute war nichts normal.
Er hatte sich seit dem Aufwachen bemüht, den seltsam realen Alptraum zu vergessen. Die Besuchsroutine in der Firmenzentrale hatte ihm dabei geholfen. Schritt eins bis drei waren glatt über die Bühne gegangen. Aber gerade eben, Schritt vier, war er mit Elke über den heißen Parkplatz dort draußen gelaufen, und sie hatte ganz nebenbei erwähnt, daß sie auf dem Weg zur Arbeit an den rauchenden Überresten eines Hauses vorbeigekommen war. "In den Nachrichten, im Autoradio, habe ich später gehört, daß zwei Kinder in dem Haus verbrannt sind. Schrecklich."
Ja. Schrecklich. Besonders für ihn. Er hatte heute durch Zufall (Zufall?!) noch keine Nachrichten gehört, aber er hatte es geahnt. Die kreischenden Kinder aus dem Traum waren wieder da. Der Vater, der die Leiter ans Fenster lehnen wollte, um die Kleinsten aus der Flammenhölle zu retten. Die Leiter war zu kurz.
Seitdem hatte Gunnar Mühe, Kontakt zur Wirklichkeit herzustellen. Die Dimensionen schienen verzerrt. In weiter Ferne hatte er Elke die Schwingtür zum hauseigenen Bistro aufstoßen sehen, während ihre Stimme aus nächster Nähe in seinen Ohren gellte. "Jan und Katja hießen sie. Mein Gott, daß Nachrichtenleute immer so ins Detail gehen müssen! Verstehst du, die Nennung der Vornamen macht die Kinder so... wie soll ich sagen... so vorstellbar! Es ist mir richtig in die Knochen gefahren. Als es dann noch hieß, daß der Vater sich beim Rettungsversuch einen Arm gebrochen hat, weil die Leiter zu kurz war und er das Fenster nicht erreichen konnte... Ich konnte mir das lebhaft ausmalen, weißt du?"
Er hatte nicht geantwortet. Was hätte er sagen sollen? Daß er sich nichts mehr ausmalen mußte? Oh nein, er brauchte keine Vorstellungskraft mehr, und er brauchte seine Phantasie auch von keinem übergenauen Nachrichtenredakteur in Gang setzen zu lassen. Schon gar nicht von Wolfgang Kreisler, diesem Sensationsgeier, dessen Stimme immer lebendiger klang, je grausamer die Nachrichten wurden. Gunnar hatte die Kinder selbst gesehen. Sie hatten sich beide aus dem Fenster gelehnt, schon hustend und außer Atem vom Rauch, hatten sich aber nicht zu springen getraut. Die braunen Augen des Mädchens angstvoll aufgerissen. Ihr Unterarm voller Brandblasen, weil sie vorher versucht hatte, zur Tür zu gelangen. Der Junge mit glimmenden Locken. Als der Vater schreiend und mit verdrehtem Arm im Blumenbeet lag, hatte das Mädchen den kleinen Bruder vom Fenster weggezogen. Beide Kinder waren an den giftigen Dämpfen des brennenden Teppichs erstickt, bevor das Feuer sie selbst erreicht hatte.
Die Antwort auf Elkes letzte Frage war ihm erspart geblieben, weil am Tresen die übliche, undurchsichtige Prozedur mit der Chipkarte an der Reihe war. Elke hatte gewußt, daß er keine hatte. "Kaffee? Ich lade dich ein, du armer Provinzfilialist." Er hatte es fertiggebracht, über das vielzitierte Stereotyp zu lachen, oder zumindest eine grinsende Grimasse aufzusetzen, auch wenn er in Gedanken noch immer die Flammen sah.
Und nun saß er Elke gegenüber, die ihm sagen wollte, sein prophetischer Traum sei Zufall gewesen. Vielleicht war sie davon aber selbst nicht überzeugt. Ihre Finger hielten den Kaffeelöffel fast so fest, wie er vorher die Tischkante umklammert hatte.
Er schüttelte den Kopf. "Nein", wollte er sagen, aber er brachte nur ein Krächzen hervor. Er sah noch einmal in den freundlichen Sommertag hinaus, wo Boss Mahler gerade von seiner aufgeregt gestikulierenden Sekretärin gestoppt wurde und den schweren Wagen in die Parklücke zurückrollen ließ.
"Kein Zufall. So. Hm." Elkes Gesichtsausdruck wurde noch eine Spur skeptischer. "Was war es dann?"
Er wußte nicht, was er von ihr erwartet hatte. Vielleicht klare Ablehnung ("Oh Gott, fängst du jetzt mit solchen Spinnereien an?"). Vielleicht auch Ironie ("Junge, du träumst von dem Feuer, das dir im wirklichen Leben fehlt."). Es hätte aber auch sein können, daß sie einfach in schallendes Gelächter ausgebrochen wäre, ohne überhaupt zu antworten.
Womit er am wenigsten gerechnet hatte, war die direkte Frage nach seiner eigenen Einschätzung. Wenn es kein Zufall war, was war es dann?
Er versuchte, die erwartete Ablehnung oder Ironie in ihrem Gesicht zu finden. Was er sah, waren ihre wachen Augen und eine echte Aufmerksamkeit für alles, was er zu sagen hatte.
"Ich schreibe manchmal Gedanken auf", sagte er und bemühte sich um sachliche Worte, um sich nicht selbst zu disqualifizieren. "Weißt du, wenn mir etwas wichtig erscheint, oder wenn ich das Gefühl habe, bestimmte Einfälle sollten nicht in Vergessenheit geraten, oder wenn ich auf eine Idee besonders stolz bin. Was daraus später wird, ist sehr verschieden. Es kommt vor, daß ich mich dabei fühle wie ein genialer Philosoph. Manchmal bleibt es ein halbgares Geschreibsel wie im Tagebuch eines Schülers, und ich bin heilfroh, daß es niemand jemals lesen wird. Manchmal wünsche ich mir aber auch, ein Regisseur käme und würde einiges davon verfilmen. Einige Male habe ich dabei Elemente von Computerspielen erfunden, die unsere Lyrasoft-Leute später tatsächlich verarbeitet haben. Und seit einiger Zeit..."
Er holte tief Atem. Elke wartete. Ihr gelduldiger Gesichtsausdruck konnte nicht davon ablenken, daß ihre Füße unter dem Tisch rastlos wippten. Auf dem Parkplatz war Mahler wieder aus seinem Wagen ausgestiegen und folgte seiner Sekretärin im Laufschritt in den Nordflügel.
"Vor knapp zwei Jahren hatte ich gerade einige Notizen gemacht", fuhr Gunnar fort, "über etwas ganz Banales. Naja, aus meiner heutigen Sicht jedenfalls. Ich hatte gerade das Positive Denken und Joseph Murphy für mich entdeckt. Ich kritzelte in meine Kladde ein paar Worte darüber, wie hervorragend in meinem Leben eine Phase in die andere überging, wie sich alles gegenseitig ergänzte, wie ich aus jedem widrigen Umstand wichtige Dinge lernte, weißt du, das war damals ziemlich -"
"Okay, okay, schon verstanden", sagte sie. "Und dann?"
Er zwang sich zum Thema zurück. "Am selben Abend traf ich auf der Straße eine Bekannte. Es war an einer Stelle, wo die Chancen eins zu einer Million standen, daß ich überhaupt jemanden träfe, und dann sah ich plötzlich Barbara wieder, die ich seit Jahren nicht gesehen hatte. Verstehst du - das war Überraschung genug. Dachte ich jedenfalls. Aber was dann kam, war das Beste. Oder das Verblüffendste. Obwohl wir uns so lange nicht gesehen hatten, waren wir im Gespräch in Sekundenschnelle an dem Punkt, wo wir über wirklich persönliche Dinge redeten. Und weißt du, was sie mir erzählte?"
"Ich nehme an, du wirst es mir jetzt sagen. Oder?"
Gunnar ignorierte die etwas patzige Antwort. "Sie sagte, sie käme gerade von einem Indien-Trip und sie sei bei gelehrten Buddhisten gewesen, und die hätten sie darauf gebracht, wie segensreich in ihrem Leben eine Phase die nächste befruchtete, und wie sich alles gegenseitig bedingte, und wie jedes negative Erlebnis für sie zu einer brauchbaren, positiven Erfahrung wurde. Kommt dir das bekannt vor? Das war das erste Mal, daß mir meine Gedanken sozusagen in Fleisch und Blut auf der Straße begegneten." Er holte tief Luft.
"Es gab also noch weitere Fälle", sagte Elke.
"Immer und immer wieder", sagte er. "Ich will dich damit jetzt nicht langweilen. Eine Sache vielleicht noch - ich picke das jetzt heraus, weil es sich quasi vor deiner Nase abgespielt hat."
Sie beugte sich neugierig vor.
"Erinnerst du dich an Carina?" fragte er. "Die inzwischen seit gut einem Jahr bei Dreamscape arbeitet?"
"Unsere Diva aus der Technik?" Sie setzte ein wissendes Lächeln auf.
"Ich fand sie hinreißend", sagte er. "Sie hat wochenlang meine Tagträume bevölkert. Ich habe sie damals in meinen Notizen verewigt - die Tagträume, meine ich. Sonst hätte ich es vielleicht selbst nicht geglaubt, was dann passierte. Weißt du, mein Tagtraum sah so aus: Ich würde mit ihr in ein Open-Air-Konzert gehen. Ganz konkret hatte ich Paul Simon vor Augen, der auf der Bühne die Anfangstakte von American Tune spielt, während sie mir um den Hals fällt und, na ja..." Er begann die Szene ein wenig peinlich zu finden. "Jedenfalls ist dann wenige Wochen später..."
"Laß mich raten", sagte Elke. "Sie fiel dir tatsächlich um den Hals."
"Ja", sagte er und sah ihre Handbewegung, die ausdrückte Siehst du, so vorhersehbar ist so etwas. "Aber das war es nicht allein: Als ich ihr die Details meiner Tagträume erzählte und ihr zum Beweis die entsprechende Seite in meiner Kladde zeigte, wurde sie plötzlich blaß und nervös. Sie sprang auf - von ihrem weichen Teppich, auf dem wir lagen -, ging zum CD-Player und schaltete ihn einfach an. Ohne die Disc zu wechseln, die drauflag. Und weißt du, was es war?"
"Many's the time I've been mistaken...", sang Elke. "Nein, ehrlich? American Tune?" Sie lachte.
"Ich überlege ab und zu, was ich mir überhaupt noch wünschen darf", sagte Gunnar.
"Ach, ich wüßte schon was", sagte sie. "So ungefähr zwei bis drei Millionen im Lotto, für mich. Damit käme ich fürs erste zurecht."
"Ich wünsche es dir", erwiderte er. "Aber so einfach ist es nicht. Kannst du mit den Ohren wackeln?"
Sie sah ihn entgeistert an. "Wie bitte?"
"Kannst du?"
"Ja, aber..."
"Okay, etwas anderes. Kannst du das?" Er steckte ihr die Zunge heraus uns verdrehte dabei die Zungenspitze zu einer U-Form.
Sie versuchte es ohne Erfolg. "Warte, ich hab's gleich."
Er schüttelte den Kopf. "Das glaube ich nicht. Diese spezielle Fähigkeit ist zufällig genetisch bedingt. Das richtige Kommando an den Muskel kannst du nicht lernen. Es ist da, oder eben nicht." Während sie belustigt und vergeblich mit ihrer Zunge experimentierte, sprach er weiter. "Ganz ähnlich ist es mit meinen Wünschen. Ich habe erfahren, daß Wünsche wahr werden. Nicht durch Zufall, - dazu sind meine Erlebnisse viel zu seltsam - sondern direkt und unmittelbar durch die Vorstellungskraft. Aber es reicht nicht, wenn ich mir jetzt mit aller Kraft eine Lottomillion für meine Kollegin Elke vorstelle..."
Sie zog die Zunge ein. "Zwei bis drei, habe ich gesagt."
"...oder meinetwegen vierzig Millionen. Soviel du willst. Auf Bestellung geht das nicht. Auch nicht auf meine eigene Bestellung. Ich habe da eine Theorie: Die Erfüllung dieser Wünsche stellt sich nur ein, wenn ein ganz bestimmter Teil meines Bewußtseins oder Unterbewußtseins beteiligt ist. Ich habe keine Ahnung, welcher das ist, geschweige denn, wie ich ihn ansteuern kann - um das mal im Computerslang auszudrücken."
"Da mußt du ja tatsächlich aufpassen, was du dir wünschst." Ihr Lachen verschwand. "Moment mal - das Feuer heute morgen hast du dir doch keinesfalls gewünscht."
"Stimmt", sagte er. Er spürte ihren forschenden Blick auf sich. Sie war ganz bei der Sache. Mit ihr hatte er zum ersten Mal seit seiner Ankunft heute früh in Hannover nicht das Gefühl, ins Leere oder gegen Wände zu sprechen. Er bemerkte überrascht, wie gut das war. Wie beunruhigend selbstverständlich er mit der unverbindlichen Fassade der anderen umzugehen gelernt hatte.
"Ich habe es mir nicht gewünscht", fuhr er fort. "Nicht einmal heimlich, aus welchem verqueren Motiv auch immer. Das macht mir Sorgen: Ich habe es einfach nur geträumt. Warum ist es dann passiert? Das ist das erste Mal..." Er hörte das Zittern in seiner Stimme. Das Schreien der Kinder gellte wieder in seinen Ohren. Er räusperte sich laut, holte tief Luft und sagte: "Es reicht also nicht, wenn ich meine Wünsche im Zaum halte. Ich muß jetzt außerdem vorsichtig sein mit dem, was ich träume. Das wird anstrengend, meinst du nicht?"
Er hatte nicht verhindern können, daß sein anfangs fester Tonfall bei den letzten Worten wieder ins Schwanken geraten war. Seit Elke ihm von der grausigen Nachricht erzählt hatte, - wie lange war das her? Zehn Minuten? Fünfzehn? - hatte sich das Schuldgefühl auf ihn gelegt wie ein riesiges, schwammiges Wesen und begann nun langsam, ihn zu zerdrücken. Ein Alptraum war wahr geworden. Was könnte schlimmer sein?
"Du machst dir Vorwürfe", sagte sie.
"Ja." Es erleichterte ihn, das zuzugeben.
"Aber - einmal vorausgesetzt, es gibt da wirklich einen Zusammenhang - du kannst nichts dafür, oder?"
Er zögerte lange, und als die Antwort schließlich kam, mußte er das Wort mühsam aus dem Mund schieben, als sträube es sich gegen das Aussprechen. "Nein."
"Siehst du." Elke lehnte sich in ihrem Plastiksessel zurück, als sei damit das Problem gelöst. "Du kannst nichts dafür, aber du gibst dir dennoch die Schuld."
Er konnte ihr nicht verübeln, daß sie es leichtnahm. Hatte sie nicht recht? Er schüttelte den Kopf. "So einfach ist es nicht", sagte er zum zweiten Mal in wenigen Minuten. "Mein Onkel hat vor zwölf Jahren jemanden mit dem Auto überfahren. Einen Betrunkenen, der ihm nachts mit einem unbeleuchteten Fahrrad auf der falschen Straßenseite entgegentorkelte. Mein Onkel hat den Unfall nicht verschuldet. Aber er persönlich war die Ursache für den Tod dieses Menschen. Er kann es nicht vergessen."
"Das muß schwer für ihn sein. Wie für dich... Ich verstehe, was du meinst. Aber gehst du denn wirklich fest davon aus, daß du der Auslöser bist?"
Die Lautsprecher in allen vier Ecken des Firmenbistros knackten. "Lars Feldmann und Wolfgang Kreisler bitte dringend in der Redaktion melden", quakte die Stimme von Mahlers Sekretärin. Die beiden Radioleute verließen eilig den Raum.
"Entweder bin ich der Auslöser, oder ich kann die Dinge vorhersehen. Im einen Fall ist schwer zu verkraften, daß ich die Ursache der Ereignisse bin. Im anderen Fall, daß ich sie nicht verhindern kann."
Elke nickte. "Du solltest das alles weitgehend für dich behalten. Wer dir nicht glaubt, hält dich für verrückt. Wer dir glaubt, könnte leicht auf die Idee kommen, dich wie einen Aussätzigen zu behandeln."
"Und du?"
Sie lachte ihn an. "Ich erwarte von dir nichts Schlimmes", sagte sie. "Du bist nicht der Typ, der Unheil anrichtet."
"Das meine ich nicht", drängte er. "Glaubst du es oder nicht?"
Sie wurde wieder ernst. "Sagen wir einmal so: Ich lasse das offen. Ich glaube, daß du es glaubst. Ich komme mit der Vorstellung gut zurecht, daß es diese Art von Übersinnlichkeit geben könnte. Wenn..."
Wieder knackte es in den Lautsprechern. "Alle GoGo-Redaktionsmitarbeiter bitte sofort in den Konferenzraum."
Elke seufzte resignierend, anstatt ihren begonnenen Satz zu vollenden. "Das war's dann wieder. Weiß der Teufel, warum jetzt plötzlich so eine dringene Konferenz stattfinden muß. Ich hab's ja schon gesagt: Nur weg von hier..." Sie schob ihre Chipkarte in seine Richtung. "Wenn du noch Kaffee willst - gib sie mir später wieder."
Aber er erhob sich mit ihr und folgte ihr hinaus und über den Parkplatz. "Danke fürs Zuhören. Leider kann ich für deine zwei bis drei Millionen nicht viel tun."
Sie lachte wieder. "Oh, schon gut, der Gedanke steht für die Tat. Vielleicht kann ich es selbst. Ich werde meine Träume ein wenig trainieren."
"Dann paß auf, was du träumst."
Sie hatten die weit offene Tür zum Foyer des Nordflügels erreicht, wo sich der Redaktionsstab vor dem Durchgang zum Konferenzraum drängte. Gunnar winkte Elke zum Abschied, blieb aber dann doch noch in Hörweite, denn sie zupfte Lars Feldmann am Ärmel und fragte nach dem Grund für die plötzliche Hektik.
"Unserer hauseigenen Nachrichtenagentur ist eine ziemliche Peinlichkeit passiert", sagte Lars, "und der Alte will jetzt klären, wie wir ohne Gesichtsverlust wieder rauskommen."
"Was war es denn diesmal?" fragte Elke mit gespieltem Gähnen. Ihrer Meinung nach leistete sich der Sender fortwährend Peinlichkeiten. Gunnar wandte sich zum Gehen.
"Die Meldung mit den verbrannten Kindern -"
"Gunnar!"
Auch ohne Elkes Aufschrei hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht, um alles zu erfahren. Gespannt sah er Lars an. Auch weitere Redakteure sammelten sich um ihn.
"Die Meldung war eine Ente. Es sind keine Kinder verbrannt."
Lauter Aufruhr war die Folge. Eine grellgeschminkte Yuppie-Frau simulierte augenrollend eine Beinahe-Ohnmacht. "O Goootttt, und Wolfi hat das heute morgen jede halbe Stunde als Top-News rausgepustet, in allen Einzelheiten...."
"Moment", rief Elke laut dazwischen. "Ich habe doch die Trümmer des Hauses noch rauchen sehen!"
"Es gab ja auch einen Brand", erklärte Lars. "Aber das Haus war leer. Der einzige Bewohner, ein 92jähriger rüstiger Rentner, ist verreist."
"Und die Einzelheiten? Woher kam denn die Nachricht?"
Während Lars zögerte, formte sich in Gunnars Gedanken bereits die Gewißheit, was geschehen war, und es wunderte ihn nicht, als Lars sagte: "Ich weiß nicht. Laut Faxkopf war sie von der Polizei, aber die will diese Meldung nie geschrieben haben. Also, Wolfgang sagt, er habe sie bei Schichtbeginn um halb fünf im Faxspeicher gefunden und ausgedruckt. Sie war so umfangreich, daß sich eine Rückfrage bei der Polizei erübrigte. Um fünf waren wir damit On Air. Ab sechs Uhr haben dann sämtliche anderen Sender die Story übernommen. Die Sache hat solch eine Eigendynamik entwickelt, daß die Polizei bis halb elf brauchte, um jede Redaktion zu überzeugen, daß in Wahrheit niemand zu Schaden gekommen ist."
Elke schüttelte den Kopf. "Keine Rückfrage bei der Polizei? Oder bei der Feuerwehr? Ganz schön leichtsinnig."
Lars nickte. "Deswegen ist ja der Chef auch so sauer auf Wolfgang. Der schlittert ganz knapp an einer Abmahnung vorbei. Mahler nimmt ihm auch übel, daß er die Diskrepanz der Zeitangaben nicht bemerkt hat."
"Was war denn damit?"
"Die Meldung trägt die Uhrzeit drei Uhr vierzehn. Aber im Text steht, daß der Brand erst gegen vier bemerkt wurde."
Gunnar sah eine Gänsehaut über Elkes Unterarme laufen. Aber ihren Tonfall behielt sie bewundernswert in der Gewalt. "Naja," überlegte sie laut, "das kann passieren. Dann ist die Drei wohl ein Tippfehler gewesen. Man müßte das doch im Faxjournal feststellen können."
"Das ist es ja gerade." Lars fuhr sich nervös mit den Händen durch die Haare. "Das Fax steht nicht in der Liste. Als einziges. Alle anderen Faxe sind aufgeführt. Dieses nicht." Er grinste unsicher. "Wunder der Technik. Es hat sich einfach so im Gerät... materialisiert." Er zuckte zusammen, weil ein dunkler Anzug plötzlich neben ihm auftauchte.
"Wir werden das gleich klären, Herr Feldmann", sagte Stefan Mahler ungeduldig. "Nehmen Sie jetzt bitte im Konferenzraum Platz."
Bevor Elke sich ihren Kolleginnen und Kollegen anschließen konnte, hielt der Manager sie zurück. "Für Sie habe ich einen Sonderauftrag", sagte er. "Kreisler hat sich heute morgen durch Nachlässigkeit derartig disqualifiziert, daß ich ihm die geplante Berichterstattung aus Brasilien von der Regenwald-Aktion wieder entziehen muß. Er bleibt hier und übernimmt im kommenden Monat Ihre Schicht. Sie werden dafür nach Brasilien fliegen und drei Wochen lang unsere Stellung in Manaos halten."
Bevor Gunnar sich umwandte und ging, sah er noch einige Sekunden lang den hilflosen Blick, den Elke in seine Richtung warf - verwundert, bestürzt, ratsuchend. Keine zwei bis drei Millionen, dachte er. Vielleicht ein andermal.
Copyright 1996 Gerhard Snitjer
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