Der Moment hätte nicht schlechter gewählt sein können. Das Telefon in der Wohnung begann seinen elektronischen Dreiklang, als Martin den Weg über die freie Rasenfläche seines Gartens zu fast drei Vierteln hinter sich hatte. Auf der linken Hand balancierte er ein übervolles Tablett mit seinem Frühstück, in der rechten hielt er die Tageszeitung, mehrere Zeitschriften, die Post aus seinem Briefkasten und seine Notizkladde. Er hielt an, um die Möglichkeiten abzuwägen. Ein Rosinenbrötchen vollzog die Vollbremsung nicht mit und wäre fast über den Tablettrand geschossen. Der Neufundländer Lukas, der voller Hoffnung unter dem Tablett lief, hob schon neugierig die Nase. Martin schob das Brötchen mit einer Ecke des Zeitungsstapels an seinen Platz zurück.
Das Telefon rief ihn noch einmal. Er mußte schnell reagieren. Jeder Anruf konnte einen Auftrag und damit bares Geld bedeuten. Und sein Anrufbeantworter war seit einigen Tagen kaputt. Martin konnte jetzt natürlich sein Frühstück im Gras abstellen und zum Haus zurücksprinten, aber dann hätte sich Lukas über die Brötchen und die Wurst hergemacht. Andererseits hätte der Weg zum Telefon mit der wackligen Fracht in den Händen viel zu lange gedauert. Die meisten Leute gaben nach dem vierten oder fünften Freizeichen schon auf. Martin versuchte es mit der einzig verbleibenden Chance. Er schleppte sein Tablett, so schnell die schwankende Thermoskanne es erlaubte, über die verbleibenden Meter bis zum Gartentisch an seinem Lieblingsplatz hinter den Brombeersträuchern. Ein weiterer Dreiklang tönte aus dem Haus. Etwas zu heftig setzte er alles ab, und Lukas bekam sein Rosinenbrötchen nun doch noch. Der warme Wind begann lässig durch die Seiten des Time Magazine zu blättern. Martin rannte zurück.
In der Wohnung warf er sich quer über den Korbsessel, der neben dem Telefontischchen im Weg stand, und griff nach dem Hörer. "Schreiber."
"Jaja, wie der Name schon sagt", versuchte Andreas am anderen Ende den alten Kalauer aufzuwärmen. "Was schreibst du denn gerade? Den ultimativen Bestseller? Wieder dieses Zeug, von dem meine Frau rote Ohren kriegt?"
Martin stopfte die Zipfel seines karierten Flanellhemds wieder in den Jeansbund und ließ sich in den Sessel fallen. In der Küche spielte das alte Kofferradio Bruce Springsteen. "Hallo, Andreas. Ich hoffe, du hast einen wichtigen Grund, mich vom Frühstück abzuhalten."
"Bingo!" jubelte Andreas durch den Hörer. "Simone hat sich heute beim Brötchenholen die Madeleine gekauft und hat sich sofort auf die Kurzgeschichte gestürzt, als sie sah, daß die wieder von dir ist..."
"Weiß sie es jetzt?"
"Nicht, daß du es bist. Aber sie hat den Namen Marty Reiter gesehen und sagte - Achtung, ich zitiere: 'Oh geil, von dem war doch auch die Story vor drei Monaten, von der wir nächtelang gezehrt haben.' Wenn sie wüßte... Die neue Geschichte hat sie geradezu verschlungen, mit glänzenden Augen. Wer weiß, wozu sie hinterher aufgelegt gewesen wäre. Leider mußte sie dann zur Arbeit. Inzwischen habe ich deinen neuen Text auch gelesen. Gefällt mir gut, da kann ich mich Simones Urteil anschließen. Aber das weißt du ja schon. Kann ich ihr nicht endlich sagen, daß der Autor der Ex-Kollege von ihrem Mann ist?"
"Meinetwegen. Aber sie soll es nicht überall herumerzählen. Pseudonyme haben schließlich irgendeinen Sinn."
"Stimmt", sagte Andreas. "Wenn ich mir vorstelle, was unser Kollegium dazu sagen würde, daß Martin Schreiber, der jahrelang die Abiturienten mit Schiller und Goethe geärgert hat, jetzt erotische Geschichten schreibt..."
"Das würde mich weniger stören", sagte Martin. "Ich habe bloß keine Lust, hier in der Nachbarschaft vom Bäcker und vom Pfarrer und von Opa Schulz gemieden zu werden, weil ich mit meinem Geschreibsel das Dorf in Verruf bringe. Und ich habe vor allem keine Lust auf irgend eine Reaktion von Kerstin."
Andreas stöhnte. "Nun verbanne doch endlich den Namen Kerstin aus deinem Wortschatz. Ihr seid auseinander, und fertig. Geh mal aus und erlebe ein wirkliches Abenteuer. Daß du dir überhaupt so prickelnde Geschichten ausdenken kannst, wo du doch in Wahrheit lebst wie im Zölibat... Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich es witzig finden."
Martin antwortete nicht. Es stimmte, daß er fast ein Jahr lang, seit der Trennung von Kerstin, nicht die flüchtigste Affäre gehabt hatte. Aber warum auch? Er hatte einfach keine Lust. Kerstin würde sich nicht so einfach ersetzen lassen. Er trauerte ihr noch immer nach und verglich insgeheim jede andere Frau mit ihr. Andreas und seine anderen Freunde fanden, er bestrafe sich selbst; sicher ginge es ihm besser, wenn nicht mehr jedes weibliche Wesen automatisch die Erinnerung an die Exfreundin heraufbeschwor.
Aus der Küche kam die Stimme von Bruce Springsteen. Everbody's got a hungry heart... Ich habe eher einen hungrigen Magen, dachte Martin und sehnte sich nach seinem ruhigen Frühstück im Garten.
Andreas versuchte, die Stille in der Leitung zu beenden. "Sag mal, dein Geschäft läuft ja ganz gut, wie? Hat die Madeleine gleich eine ganze Serie von dir eingekauft?"
"Nein", sagte Martin und hielt durch die Verandatür Ausschau nach Lukas, der nicht mit ins Haus gekommen war. Er war nirgends zu sehen. "Ich scheine nur mit den beiden Geschichten, die ich angeboten habe, zufällig den Geschmack der Redakteurin getroffen zu haben."
"Aha, eine Redakteurin", sang Andreas gutgelaunt. "Wie heißt sie - Fräulein Madeleine? Ist sie hübsch?"
"Frage eins: Sue Wagner. Frage zwei: ich habe keine Ahnung. Wir haben nur telefoniert, und mein einziger optischer Eindruck von ihr ist die Unterschrift unter den Verträgen."
Andreas ließ einen theatralischen Seufzer los. "Martin, du wirst noch völlig unbeweibt die Midlife-Crisis verschlafen. Wenn die Frau dir schon so gut gesonnen ist, dann lern sie doch mal kennen! Meine Güte, die Redaktion ist keine zwanzig Kilometer von deiner Haustür entfernt!"
Martin brummelte eine halbherzige Antwort. Er mochte es nicht, wenn Freunde ihn in diese Art von Diskussion verwickelten. Es war doch nichts Schlimmes, wenn er sich ein wenig zurückzog, oder? Was war dabei, wenn Liebe und Lust in seinem Leben den kleinen Umweg über die Phantasie nahmen, anstatt in der Wirklichkeit stattzufinden?
Everybody's got a hungry heart...
"Andreas, draußen im Garten wird mein Kaffee kalt, und die Ameisen futtern mir das Frühstück weg", sagte er und verabschiedete sich. Er legte auf und trat wieder in den sonnigen Vormittag hinaus. Vom Dach seines kleinen Hauses gurrte ein liebeskranker Täuberich. In den höchsten Zweigen seines blühenden Kirschbaums sang unermüdlich eine Amsel. Das Gras, das wieder einmal gemäht werden müßte, kitzelte Martins Füße zwischen den Riemen der Sandalen, als er gemächlich zu seinem Frühstückstablett zurückschlenderte, die Sonne im Gesicht und die Melodie von Bruce Springsteen noch im Ohr. In der Ferne, hinter den tiefgrünen Marschwiesen, sah er auf dem Fluß einen Frachter vorbeiziehen. Auf solch einem Schiff war er mit Kerstin damals nach Südamerika gefahren.
Schluß damit! Das Kapitel war abgeschlossen. Kerstin lag in den Armen eines Brasilianers. Martin hatte ihr gefälligst nicht nachzuweinen. Und sicher würde auch bei ihm das Interesse an anderen Frauen irgendwann wieder erwachen.
Andere Gedanken mußten her, und er war geübt darin, sie aufzuspüren: Er sah sich im Garten um. Das hier war es, was er immer gewollt hatte. Er hatte den ungeliebten Lehrerjob hinter sich gelassen. Er war frei. Nicht einmal sein Kontostand, der manchmal in die roten Zahlen geriet, störte sein Glück besonders nachhaltig. Das würde sich schon regeln. Wichtiger war, was er hatte: Tage, die ihm gehörten. Menschen, Geschichten, ganze Welten, die er selbst erschuf. Erste kleine Erfolge, Anerkennung. Während er über den Rasen lief und den Möwen über dem Fluß hinterhersah, spürte er in sich einen soliden Sockel aus Zufriedenheit. Nicht glatt, nicht vollkommen. Aber beruhigend massiv. Eigentlich war sein Leben in Ordnung. Nur - da hatte Andreas schon recht - daß er offenbar noch immer nicht so recht von Kerstin losgekommen war.
Und daß Lukas seltsam schuldbewußt hinter dem Brombeerstrauch auf ihn wartete.
Um die Wurst, die der Hund sich vom Tisch geholt hatte, war es nicht besonders schade. Wohl aber um die Zeitungen, denn Lukas hatte das Honigglas umgeworfen, und die klebrige Masse hatte sich respektlos über die Fotos von Bill Clinton und Helmut Kohl ergossen. Zwei Fliegen saßen schon darin fest. Während Martin mit wenig Überzeugung eine Strafpredigt auf seinen Hund losließ, versuchte er gleichzeitig, so viel wie möglich von seinem Papierstapel zu retten. Da war die Madeleine, in der seine neueste Geschichte abgedruckt war. Er zog das Heft vorsichtig unter der Tageszeitung hervor. Der Verlag hatte ihm das Belegexemplar mit der Post geschickt. Nun würde er sich am Kiosk noch eins kaufen müssen, denn die Seiten waren hoffnungslos verklebt, ebenso wie die des Spiegel und des Geo. Mit spitzen Fingern knickte er die Rundschau ein wenig zusammen und schob dabei das Blatt in Richtung Tischkante, um auf diese Weise vielleicht noch das Time Magazine zu retten. Goldener griechischer meli rollte in einem gigantischen Tropfen vom Händedruck der Staatsmänner über ein Inserat für Staubsauger und dann in Zeitlupe von der Tischkante ins Gras. Lukas, noch immer mit kleinlaut angelegten Ohren, schnupperte vorsichtig daran. Martin stellte verärgert fest, daß das Time Magazine trotz aller Bemühungen längst klebte, ebenso seine Finger. Er spürte die Hitze der Vormittagssonne. Schweiß stand auf seiner Stirn. Er wischte ihn mit der linken Hand fort, um sich den Honig nicht auch noch ins Gesicht zu schmieren. Ebenfalls mit links versuchte er dann, den Sonnenschirm zu öffnen.
Ein allzu vertrauter Dreiklang schrillte aus dem Haus. Leise fluchend setzte Martin sich in Bewegung. Fast wäre er dabei über Lukas gestolpert, und beim Ausweichversuch rutschte er mit einer Sandale durch den Honigsee im Gras. Ungeduldig riß er im Laufen den Schuh von seinem Fuß und hinkte in aller Eile ins Haus. Mit links hob er den Hörer ab. "Schreiber!"
"Sue Wagner, Redaktion Madeleine. Martin Schreiber?"
"Ja!" Er konnte die Ungeduld nicht verbergen. Was immer sie noch mit ihm zu bereden hatte - er hätte sich lieber zuerst den Honig von den Fingern gewaschen. Aber schließlich war sie möglicherweise eine Käuferin weiterer Kurzgeschichten. Er zwang sich zur Ruhe und zu freundlichen Worten. "Ich habe das Belegexemplar heute bekommen. Vielen Dank."
"Oh, ja, fein. Aber deswegen rufe ich nicht an. Herr Schreiber, Sie könnten uns aus einer Verlegenheit helfen. Haben Sie einen Moment Zeit?"
Aus der Küche verkündete das Radio, es sei zehn Uhr. Die Nachrichten begannen. Er brummte auf ihre Frage eine Zustimmung und registrierte, daß sie nicht zu den Leuten gehörte, die einem Schriftsteller unterstellten, er habe prinzipiell immer Zeit. Nicht einmal Andreas, mit dem er darüber schon häufig gesprochen hatte, hatte jemals so höflich um "einen Moment Zeit" gebeten.
"Wir haben für das Juliheft noch keine Kurzgeschichte", sagte sie. "Genau gesagt, wir hatten zwei zur Auswahl, aber in beiden Fällen sind plötzlich Probleme mit dem Urheberrecht aufgetreten, so daß sich die Veröffentlichung erst später machen läßt. Wir brauchen also dringend Ersatz, und von Ihren Geschichten war unser Chefredakteur so begeistert, daß er mir aufgetragen hat, Sie anzurufen."
Martin jubelte innerlich. Etwas besseres konnte ihm kaum passieren. Die Kurzgeschichten wurden gut honoriert, und jede Veröffentlichung war eine Referenz, wenn er für spätere Stories und Romane Abnehmer suchte. "Sie möchten eine weitere erotische Story von mir?"
"Richtig", sagte sie. "Haben Sie denn eine?"
"Klar." Er klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr, zog mit seiner sauberen Hand den Ordner aus dem Regal, manövrierte ihn auf das Telefontischchen und schlug das Inhaltsverzeichnis auf. "Sie können unter drei Kurzgeschichten wäh..."
"Warten Sie", fiel ihm Sue Wagner ins Wort. "Eines müssen Sie noch wissen. Die Texte, die uns 'geplatzt' sind, waren relativ kurz, kaum mehr als zweitausend Wörter. Dieser eingeplante Platz ist inzwischen völlig umgeben von Inseraten und Design-Elementen. Daran ist nichts mehr zu ändern. Ich brauche also eine Geschichte von maximal dieser Länge. Dazu noch eine gute." Sie klang, als lächelte sie, als sie hinzufügte: "Aber deswegen rufe ich ja Sie an."
Enttäuscht klappte er den Ordner zu und nahm den Hörer wieder in die Hand. "Tut mir leid. Habe ich nicht."
"Könnten Sie nicht eine von den vorhandenen kürzen?"
Er überlegte. "Nein", sagte er dann. "Sie kennen doch meine Geschichten. Sie sind schon sehr komprimiert. Man kann nichts mehr weglassen."
"Stimmt", sagte sie. "Ihre Stories sind gut angelegt und, wie soll ich sagen... rund. Es gefällt mir, was Sie schreiben. Ja, schade - ich hätte gern etwas von Ihnen genommen."
Er nahm ihr Lob als eine professionelle Schmeichelei hin; schließlich wollte sie etwas von ihm. Martin schluckte. Eine dritte Veröffentlichung in der Madeleine innerhalb weniger Monate hätte seiner kleinen Karriere und seinen begrenzten Finanzen gutgetan. Aber Sue Wagner war offenbar im Begriff, sich zu verabschieden. "Warten Sie", sagte er und rieb seine Honigfinger aneinander. "Ich könnte Ihnen etwas Neues schreiben."
"Das glaube ich kaum", sagte sie. "Der Redaktionsschluß war eigentlich heute früh um zehn, also gerade eben. Ich habe wegen der Kurzgeschichte eine winzige Galgenfrist herausschlagen können. In rund fünf Stunden muß das Manuskript vorliegen."
Eine kleine Pause entstand. Martin überlegte fieberhaft. Sollte er vielleicht doch in einem seiner unveröffentlichten Texte herumstreichen? Er wog die Möglichkeiten ab. Zwei der Stories waren erheblich länger als das Limit und hätten arg verstümmelt werden müssen. Und die dritte war für einen Autorenwettbewerb vorgesehen; an der wollte er überhaupt nichts ändern.
"Ich könnte noch schnell etwas schreiben", dachte er laut vor sich hin.
"Oh ja, prima." Das spontane Lachen aus dem Hörer teilte ihm mit, daß sie diese Idee für einen guten Witz hielt. Aber ihr kleiner Heiterkeitsausbruch erreichte bei ihm auch etwas anderes. Ihre Stimme veränderte sich durch das Lachen, wurde wärmer und persönlicher.
"Ich könnte es wirklich", sagte er.
"Im Ernst?"
"Warum nicht?"
Sie schien den Atem anzuhalten. Schließlich sagte sie: "Sie sind ein richtiger Profi, was?" Es klang kein bißchen herablassend. Eher anerkennend. "Sie würden damit ein echtes Problem für mich lösen. Haben Sie denn wenigstens schon den Handlungsfaden im Kopf?"
Wenn er nicht noch immer mißmutig an seinen Honigfingern herumgerieben hätte, wäre er jetzt mit dem Lachen drangewesen. "Viel muß nicht passieren in solch einer Geschichte", sagte er. "Als auswählende Redakteurin wissen Sie das doch." Es war ein seltsamer Gedanke, daß diese sachliche Frau sich wahrscheinlich in ihrem Job mit einer Menge guter und schlechter Erotik- und Pornotexte beschäftigte.
"Ich brauche kaum eine Handlung, sondern eher eine Beziehung", sagte er. "Am besten natürlich eine außergewöhnliche. Sagen wir mal... Warten Sie... Stellen wir uns vor, ein einsamer Mann und eine einsame Frau finden sich per Kontaktanzeige. Aber sie können sich nicht gleich treffen, weil... zum Beispiel... den Grund denke ich mir noch aus. Also gehen erstmal die Briefe hin und her, anfangs ganz gesittet, dann aber immer gewagter und schließlich geradezu hardcore-mäßig. Als die beiden sich endlich treffen - und darum geht es in der Geschichte -, haben sie eigentlich schon eine Menge miteinander erlebt."
"Lassen Sie mich raten", sagte sie. "Der Blickwinkel ist der der Frau, oder? Hat sie schon einen Namen?"
"Claudia", sagte Martin ohne Zögern und wunderte sich, warum ihm nicht als erste Wahl Kerstin eingefallen war. "Natürlich ist eine Frau die Heldin; wir schreiben ja für Frauen."
"Sie schreiben", lachte sie. "Ich höre Ihnen dabei nur zu." Ihr Lachen klang freundlich, und ihm war, als sei sie ihm näher gekommen. Jetzt vergaß er seine Honigfinger tatsächlich und ging auf ihren Ton ein.
"Ich würde es anders ausdrücken", sagte er. "Ich schreibe, Sie kaufen. Womit kann ich dienen?"
"Das überlasse ich Ihnen. Sie sind der Künstler."
"Eher ein Handwerker, wenn Sie mich fragen. Also, die Ausgangssituation ist genehmigt?"
"Sicher. Das Treffen der beiden kann sehr interessant werden."
"Wie muß die Begegnung aussehen, damit Sie sie spannend finden?"
"Naja..." Sie zögerte. "Die beiden sollten sich erst einmal erschrecken, wenn sie sich zum ersten Mal gegenüberstehen. Aber dann, zum Beispiel im Laufe eines langen, gemeinsamen Nachmittags, erkennen sie die Vertrautheit wieder, die sie in den Briefen aufgebaut haben."
"Und wo bleibt die Erotik?"
"Was wollen Sie denn von mir hören?" lachte sie. Es klang kein bißchen verschämt. "Unsere beiden Helden werden sich natürlich an die knisternde Spannung der Briefe erinnern, die in der Geschichte genüßlich zitiert werden können. Da können Sie dann in bewährter Weise recht direkt werden. Alles beim Namen nennen. Nicht wahr, das soll unsere Leserinnen schließlich anregen, dazu ist erotische Literatur ja da." Sie bremste ihren Wortschwall. "Pardon, ich wollte ihnen nicht zu nahe treten: der Fachmann sind Sie."
"Nein nein, keine Sorge, das hier ist ein äußerst produktives Brainstorming", sagte er. In ihm begann die Vorstellung zu wachsen, wie Sue Wagner sich an ihrem Schreibtisch in der Redaktion durch einen Berg erotischer Geschichten arbeitete und sich davon anregen ließ, denn dazu war erotische Literatur ja da...
Martin spürte Lukas' kalte Nase an seiner nackten Ferse, dann die rauhe Zunge, die angelegentlich an ihm herumschleckte. Der Ausrutscher im Honig hatte offenbar Spuren hinterlassen. Im Küchenradio waren die Nachrichten zu Ende, und die Supremes sangen 'Dirty Old Man'.
Sue Wagner sprach schon weiter. "Wenn Sie wirklich meinen, daß Sie die Geschichte noch schreiben wollen, dann lasse ich Sie jetzt lieber an die Arbeit gehen. Ich vertraue darauf, daß Sie wieder etwas Schönes zaubern. Eine von Ihren Geschichten, die keinen Wunsch offen lassen."
Er begann, ihre anerkennenden Worte in einem neuen Licht zu sehen. Konnte es sein, daß seine Texte der Redakteurin wirklich unter die Haut gegangen waren? Hatten die lustvollen Schilderungen in seinen Texten sie angeheizt? Er gestand sich ein, daß ihn der Gedanke gleichermaßen zufriedenstellte wie beunruhigte. Er hatte keine Ahnung, wie Sue Wagner aussah, aber er konnte sich plötzlich sehr genau die Hitze ihres Körpers vorstellen. "Keinen Wunsch offen... das wäre zu hoch gegriffen", sagte er mit belegter Stimme. "Dazu sind die individuellen Wünsche viel zu verschieden." In einem Anflug von Kühnheit fügte er hinzu: "Was wäre denn Ihr eigener Wunsch? Was möchten Sie lesen?"
Er hörte sie langsam ausatmen. "Was ich lesen möchte?" fragte sie.
"Ja."
Sie überlegte kurz. "Lassen Sie die Heldin - wie hieß sie... Claudia? Lassen Sie Claudia träumen, phantasieren. Das läßt nämlich Dinge möglich werden, die in der Wirklichkeit nie stattfinden würden und die uns deswegen ganz besondern verlocken und erregen. Sich fallenlassen, zerfließen. Überwältigt werden. Hinweggeschwemmt werden. Verschmelzen..." Martin hörte neue Schwingungen in ihrer Stimme. Seine Gesprächspartnerin war nicht mehr die Madeleine-Redakteurin, sondern eine junge Frau namens Sue. Er sah sie nicht mehr an ihrem Schreibtisch, sondern an einem Tisch in seiner Stammkneipe. Wenn sie sprach, beugte sie sich zu ihm herüber, und er spürte ihren Atem an seinem Ohr. "Die Phantasie erlaubt orgiastische Gefühle ohne Körperlichkeit", sagte sie gerade. "Die Seele kann einfach in ihrer Lust davonschweben." Ob sie von ihren eigenen Empfindungen sprach? Sie war ihm nahe, als könne er sie greifen. "All diese Grenzüberschreitungen", sagte sie, "Sie wissen schon, diese lustvollen Höhenflüge, die in der Realität an Kleinigkeiten scheitern - an kratzigen Bartstoppeln, lästigen Präservativen oder Tampons oder einem Telefonklingeln zur falschen Zeit."
"Die Phantasien lassen sich in die Briefe sehr gut einarbeiten", krächzte Martin und räusperte sich geräuschvoll. Um sich auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, sah er Lukas nach, der es sich draußen in einem Sonnenflecken auf dem Rasen bequem gemacht hatte. "Aber dann wollen Sie Claudia mit ihren unerfüllten Träumen alleinlassen?"
"Keinesfalls. Was sie dann tatsächlich mit ihrer Inseratsbekanntschaft erlebt, wird ja trotz anfänglicher Ernüchterung doch noch von Verliebtheit und Rausch geprägt sein. Die lästigen Kleinigkeiten des grauen Alltags dürfen dabei nur ganz am Rande durchscheinen."
"Achtung, Kitschgefahr." Er war dankbar für ihre Rückkehr zu distanzierterer Betrachtung.
"Da mache ich mir keine Sorgen", sagte sie. "Ich weiß ja, was Sie können."
Was war nur mit diesem Telefon los? Warum erklang ihre warme Stimme jetzt noch näher, als wäre Sue Wagner im selben Raum?
"Ich bekomme langsam das Gefühl, Sie könnten das auch", sagte er. "Schon mal versucht?" Falsch, ganz falsch, Martin, tadelte er sich. Was tue ich hier eigentlich? Nicht nach persönlichen Dingen sollte ich fragen, höchstens nach geschäftlichen. Und vor allem muß ich jetzt an den Schreibtisch. Sofort.
"Nein", antwortete sie. "Ich habe mich ans kreative Schreiben nie herangetraut. Aber ich will Sie jetzt bei ihrer Arbeit nicht länger..."
"Sie helfen mir großartig dabei. Nennen Sie mir noch eine typische Phantasie dieser Claudia", hörte Martin sich sagen. Er wußte selbst nicht, was in ihn gefahren war. Er spürte, daß er rot wurde. Hatte er sich wirklich so weit vorgewagt? Er versuchte, seine Aufforderung abzuschwächen: "Ich meine, Sie haben mir bis jetzt schon einige Anregungen gegeben - vielleicht fällt Ihnen noch etwas ein..."
"Ich glaube, ich verlange bald eine Beteiligung als Co-Autorin am Honorar", sagte sie gutgelaunt. "Nein, Spaß beiseite. Ich hätte da schon etwas. Ich stelle mir unsere Claudia so um die dreißig vor. Eine ihrer Lieblingsphantasien dreht sich um den männlichen Körper. Naja, das ist vielleicht nicht präzise genug. Sagen wir, sie ist von den männlichen Attributen fasziniert... Besonders visuell kann sie..."
Martin vergaß seine klebrigen Finger tatsächlich für einen Moment und lachte laut auf. "Oh ja, das schreibe ich: 'Im Falle Claudia kam eine visuelle Faszination für maskuline Attribute zur Durchführung.' Das wird unsere Leserinnen emotional völlig vom Stuhl reißen. Die werden eine sensomotorische Betroffenheit erleben, die das Phänomen Mann situationsspezifisch aufgreift. Waren Sie mal Sozialpädagogin?"
Sue Wagner lachte so laut, daß sein Hörer schepperte. "Ja, war ich. In der Tat. Ist das so offensichtlich?"
Ihr Lachen erzeugte auf seinen nackten Unterarmen eine Gänsehaut. "Nur, wenn Sie sich hinter Ihren Worten zu verstecken versuchen", sagte er. "Was, bitte schön, wollten Sie wirklich sagen?"
"Moment, Moment", bremste sie. "Ich will mit Ihnen gern über die Grundzüge der Geschichte sprechen, aber ich möchte sie Ihnen nicht im einzelnen vorformulieren. Das heißt, ich darf beim Planen ruhig ein wenig theoretisch klingen. Mit Leben füllen können Sie es dann."
Aus ihrer Stimme klang noch immer keine Spur von Zurückweisung. Was er hörte, war Wärme und Nähe. "Ich würde Ihnen normalerweise zustimmen", sagte er, "aber wir beide haben verdammt wenig Zeit. Ich werde versuchen, Ihnen vor dem endgültigen Redaktionsschluß etwas zu schreiben, aber inspirieren Sie mich bitte ein wenig!" Er wußte selbst nicht genau, was er von ihr erwartete. Hauptsache, sie blieb am Telefon.
"Also gut. Claudias Traum ist ein Mann mit breiten Schultern und mit dem berühmten Waschbrett-Muskel-Bauch. Nur leider hat sie ihn schwarzhaarig geträumt, und was ihr dann in der Realität begegnet, ist, hm, sagen wir..."
"Grau." Martin wäre sich fast mit der klebrigen Hand durch die Haare gefahren.
"Grau? Naja, warum eigentlich nicht? Und der vollkommene Muskelmann steht ihr da auch nicht gerade gegenüber, als sie zum Treffpunkt kommt."
Er sah an sich herab und fand, er sollte bald eine Diät beginnen. Sue Wagner sprach indessen weiter: "In den Briefen könnten die beiden sich doch schon richtig heiß gemacht haben. Wie ich schon sagte, die Phantasie ist schrankenlos." Ihre Stimme gluckste leise. "Aber wem erzähle ich das..."
Martin überlegte, was die Redakteurin über seine Phantasien wußte. Sie hatte zwei Geschichten von ihm gelesen, in denen er kein Blatt vor den Mund genommen hatte. Ob sie ihn für einen Wüstling hielt? Einen 'Dirty Old Man'? Er verwarf den Gedanken sehr schnell wieder: Schließlich hatte sie seine Geschichten nicht nur gelesen, sondern auch bereitwillig veröffentlicht.
"Sie wollten mir sagen, worauf sich Claudias Phantasien im einzelnen richten." Er wunderte sich über seine eigene Beharrlichkeit. Das Gespräch mit ihr war zu einem Spiel geworden. Einem spannenden Spiel.
Sie schien das ebenso zu sehen. "Sie sind ganz schön neugierig", sagte sie. "Also gut. Sagen wir, sie ist vom Leben im allgemeinen und von ihren Verflossenen im besonderen bitter enttäuscht worden. Wonach sie sich sehnt, ist Zärtlichkeit. Sie erträumt sich keinen potenten Deckhengst, sondern einen liebevollen Freund, der freigiebig Streicheleinheiten verteilt. Einen Masseur für Leib und Seele sozusagen."
Es entging Martin nicht, daß ihre Stimme bei diesen Worten leiser und noch eine Nuance dunkler wurde. Das Thema mußte ihr sehr nahe sein.
"Sie ist sich nur über diese Wünsche gar nicht recht im klaren", sagte sie. "Vordergründig hat sie den Anspruch, daß gefälligst der knackige Supermann in ihr Leben zu treten hat. Genau deswegen hat sich ja in ihrem bisherigen Leben jede Partnerwahl als Irrtum herausgestellt." Sue Wagner machte eine winzige Denkpause. Martin sah im Geiste ihre Augen noch ein wenig dunkler werden. "Sie trifft also ihre Inseratsbekanntschaft und ist enttäuscht. Erst im ausführlichen Gespräch stellt sie fest, daß er eigentlich genau das ist, wonach sie sich gesehnt hat."
"Das könnte man zu einer ziemlich unerotischen Geschichte verarbeiten", sagte er provozierend.
"Herr Schreiber, jetzt machen Sie sich über mich lustig. Sie wissen genau, wie ich mir das vorstelle: Sie erzählen zwar diese Geschichte, aber Sie verlagern die Gedanken und Empfindungen der Personen von der langweiligen Logik auf die angeheizten Sinne. Unsere Claudia muß das Wort 'Streicheleinheit' nicht ein einziges Mal in den Mund nehmen. Aber sie liest zwischen den Zeilen seiner Briefe, wie warm und wie stark seine Hände sind, und schon erlebt sie die ganze Skala der Symptome - von der Gänsehaut bis zu gewissen heißen Wallungen..."
Martin konnte ihr gut folgen, denn eine 'heiße Wallung' hatte auch er gespürt, während sie sprach. Es waren weniger ihre Worte als der Klang ihrer Stimme. Ihm war, als säße sie auf seinem Schoß, die Arme um seinen Hals gelegt, und flüsterte ihm die Worte ins Ohr.
"Ich muß also versuchen", sagte er, "die Zitate aus den Briefen - seinen Briefen - so zu schreiben, daß dahinter sowohl ein Potenzprotz als auch ein schüchterner, aber sehr liebenswerter Durchschnittsmann vorstellbar wird."
Er hörte förmlich ihr zustimmendes Nicken. Ihre Locken wippten. Locken? Wieso...
"Meinen Sie, daß Ihnen dazu etwas einfällt?" fragte sie.
"Klar", sagte er. "Bei diesen literarischen und dramaturgischen Anforderungen fällt mir als erstes ein, daß ein höheres Honorar fällig wäre." Er hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. So etwas hatte er noch nie gefordert. Die Zeitschriftenverlage hatten schließlich ihre festen Honorarsätze.
"Herr Schreiber", sagte sie, und ihm fiel auf, wie frustrierend förmlich diese Anrede klang, "das ist doch überhaupt keine Frage. Wenn Sie uns mit solchem Elan aus der Patsche helfen, habe ich kein Problem, dem Chefredakteur zu erklären, daß wir Ihnen einen Bonus einräumen müssen...." Martin registrierte ungläubig, daß sie dabei war, ihm die willkommende Summe von womöglich ein paar Hundert Mark zu schenken. Viel stärker nahm er jedoch wahr, daß sie wieder ganz sachlich und geschäftlich klang, und er bemerkte, wie sehr diese Veränderung ihn enttäuschte; wie sehr er - konnte das sein? - die persönlichen, intimeren Schwingungen, die er vorher gehört hatte, vermißte.
"Schon gut, schon gut", sagte er und unterdrückte mühsam den schuldbewußten Hinweis, daß er mit einem Honorar-Aufschlag gar nicht im Ernst gerechnet hatte. "Ihre Frage war, was mir zu den Briefpassagen einfällt. Ich glaube, ich habe da schon etwas. Die Sache mit seinen Massagekünsten haben Sie ja freundlicherweise schon erfunden. Ich habe mir das notiert." Martin sah auf seine klebrige rechte Hand herunter, die zum Notieren im Moment ohnehin nicht zu gebrauchen war. Aber er war sicher, er würde nicht vergessen, wie sie das gesagt hatte: wie warm und stark seine Hände sind... Gänsehaut... heiße Wallungen...
"Ich stelle mir beispielsweise vor", fuhr er fort, "daß in seinen Briefen steht, wie sehr er davon überzeugt ist, sich in alle ihre Wünsche hineinversetzen zu können. Sie sieht darin zunächst genau die männliche Arroganz, die sie von früheren Liebhabern gewohnt ist und die sie eigentlich haßt, die sie aber doch zu brauchen glaubt - einfach, weil sie ihr so vertraut ist. Der Gedanke an einen derart dominanten Mann ist sogar reizvoll für sie. Als sie ihn dann kennenlernt, vierzigjährig, leicht angegraut, mit scharfen Falten im Gesicht, aber auch mit Grübchen beim Lachen, da beginnt sie nach anfänglicher Enttäuschung zu verstehen, daß er auf seine Weise recht hat: Hier steht ein Mann mit Erfahrung. Kein Anfänger. Keiner, der etwas beweisen muß. Einer, bei dem sie gut aufgehoben sein könnte."
Dankbar hörte er ihr unbeschwertes Lachen aus dem Telefonhörer, obwohl sie ihm widersprach: "Oh, passen Sie auf, Herr Schreiber" - schon wieder diese furchtbare Anrede - "das klingt nach einer grauenhaft unerotischen Geschichte."
Sie wiederholte damit leicht ironisch seine eigenen Worte von vorhin. Aber wichtiger war für ihn: Die kühle Managerin mit der Honorarkalkulation war verschwunden und hatte abermals der duftigen, attraktiven Frau mit den roten Locken Platz gemacht. Er spürte wieder ihren Atem an seinem Ohr.
Rot? Aber...
Martin war stolz darauf, daß seine Stimme nicht preisgab, wie weich seine Knie waren. "Keineswegs. Er schildert ihr nämlich in seinen Briefen genau die Wünsche, die sie tatsächlich aus langen, einsamen Nächten kennt. Und die haben es in sich."
"Genau", sagte sie und holte Luft, als wollte sie weitersprechen. Aber sie schwieg. Er hörte sie leise atmen.
"Wonach sie sich im Grunde ihres Herzens sehnt", fuhr er fort, "ist Nähe. Für sie sind die orgiastischen Gefühle, die sie sich erhofft und die Sie ja vorhin erwähnten", - er hätte fast Du gesagt - "untrennbar verbunden mit... wie soll ich sagen... gegenseitigem Interesse, mit Verständnis, mit Respekt..."
"Liebe", warf sie ein, als sei es das Einfachste von der Welt.
Er fragte sich, warum er plötzlich so schwer schlucken mußte. "...und so läuft die Geschichte dann auch auf ein sehr zärtliches Erlebnis heraus."
"Ooooch!" Sue Wagner mimte ein enttäuschtes, kleines Mädchen. "Nicht allzu zärtlich, bitte. Ich will doch eine wirklich erotische Story, sonst hätte ich sicher nicht ausgerechnet Sie gefragt!"
"Keine Sorge", sagte er und hatte das Gefühl, daß sie sich ein wenig über ihn lustig machte. Er beschloß, sie zu provozieren. "Zärtlichkeit kann sehr sexy sein", sagte er. "Seine Umarmungen und seine Worte lösen bei ihr genau das aus, was Sie vorhin schon sagten. Heiße Wallungen." Er suchte nach Worten. "Ein angenehmes, heißes Gewicht liegt in ihrem Unterleib. Er flüstert ihr etwas ins Ohr, und im Klang seiner Stimme hört sie die Vitalität und Kraft dieses Mannes. Das macht sie an. Ihre Lippen beginnen zu brennen - und zwar nicht nur die in ihrem Gesicht."
Martin war zwar der Verfasser von vielen derartigen Geschichten, aber er fand es ziemlich gewagt, mit einer fremden Frau am Telefon über solche Einzelheiten zu sprechen.
Sue Wagner schien nichts dabei zu finden. "Sie verspürt den unbändigen Wunsch, sich für ihn zu öffnen", sagte sie lebhaft. Martin sah ihre dunklen Augen förmlich blitzen und wunderte sich, wie er darauf kam, sie könne dunkle Augen haben. Sie sprach schon weiter. "Dies ist der Mann, auf den sie gewartet hat, ohne es zu wissen. Nun ist er da, und sie kann es nicht erwarten, ihn ganz für sich zu haben. Sie will ihn ausziehen, anfassen, küssen, in sich spüren, verschlingen... Plazieren Sie die Szene, in der die Gefühle so richtig wach werden, auf die Straße oder ins Café. Er trinkt Espresso, sie löffelt Eis mit heißen Kirschen. Sogar der italienische Kellner spürt, daß sie in Ruhe gelassen werden wollen. Lassen Sie die Sehnsucht unserer Heldin ins Unermeßliche wachsen. Auch der Mann fühlt sich natürlich von ihr unwiderstehlich angezogen. Die beiden mögen es kaum offen zugeben - schließlich wollen sie Haltung bewahren - aber sie haben es wahnsinnig eilig, zu ihm oder zu ihr nach Hause zu kommen und sich endlich die Kleider vom Leib reißen zu können. Als sie zu guter Letzt allein sind und er sie so unverschämt küssen kann, wie sie es sich wünscht..."
Die Stimme aus dem Telefon jagte Martin immer neue Schauer über den Körper. Seine Jeans spannte sich unbequem über eine stetig wachsende Erektion, die er gerne ein wenig geradegerückt hätte, aber er hatte nur die klebrigen Finger dafür frei. Er begann, den Honig davon abzulecken, und hoffte, daß sie es nicht hören konnte.
"... da ist sie schon so naß, daß sie einen Moment lang überlegt, ob sie nicht zuerst heimlich im Bad das Höschen wechseln sollte..." Seine Gesprächspartnerin schwelgte in ihren eigenen Ideen. Sie sprach immer schneller. "Aber er liest ihre Gedanken, schließlich ist er nicht von gestern, und er hindert sie liebevoll daran, zieht sie aus..."
Er wollte ihr dieses Feld nicht ganz allein überlassen. "Und er vermittelt ihr die ganze Zeit, wie heiß ihn ihre Erregung macht", sagte er mit ebenso angespannter Stimme wie sie. "Und..."
"Genau!" fiel sie ihm ins Wort. "Die beiden schaukeln sich gegenseitig hoch und höher. Bebende Nasenflügel, flackernder Blick und alles."
"Ihre roten Locken streichen über seine Haut", fügte er hinzu. Der Rhythmus ihres Gesprächs beschleunigte sich weiter.
"Sein Atem fliegt..." - "Ihre Brustwarzen richten sich auf..." - "Sein offener Mund preßt sich..." - "Sie umfaßt...." - "Er legt..." - "Ihre Schenkel reiben..." - "Seine Zunge wandert..." - "Umschließen..." - "Eintauchen..." - "Zerfließen..." - "Gleiten..." - "Verschmelzen..."
Eine kleine Pause entstand.
"Das haben Sie vorhin schon einmal gesagt", murmelte Martin und leckte sich den Honig vom kleinen Finger. Sein Herz klopfte.
"Was habe ich gesagt?"
"Zerfließen. Und verschmelzen." Seine nassen Finger hatten eine ganz eigene, lebhafte Phantasie. Sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren.
"Stimmt. Das hat wahrscheinlich irgend etwas zu bedeuten." Auch sie klang, als sei ihr Puls nicht gerade im Ruhezustand.
"Ich werde beim Schreiben daran denken", sagte er und wußte, daß er damit die volle Wahrheit sagte.
"Oh Himmel, ja", rief sie, noch leicht außer Atem. "Ich hätte fast vergessen, daß ich Sie von der Arbeit abhalte. Ich drücke Ihnen - und mir - die Daumen, daß Sie rechtzeitig fertig werden. Rufen Sie mich dann bitte gleich an. Meine Durchwahl haben Sie ja."
"Okay", sagte er. "Ich werfe jetzt meinen Computer an. Bis nachher!" Er hörte sie noch atmen, als wollte sie etwas sagen, aber sie blieb still. Schließlich legte er den Hörer auf und ging ins Bad, um sich endlich die Hände zu waschen.
Fast vier Stunden lang saß Martin am Schreibtisch und brachte ihre gemeinsamen Ideen in die richtige Form. Er unterbrach die Arbeit nur einmal, als ihm einfiel, daß sein Frühstück noch immer auf dem Gartentisch hinter den Brombeersträuchern stand. Er lief hinaus, um das Tablett zu holen. Auf dem Fluß zog wieder ein Frachter vorbei. Martin würde erst viel später feststellen, daß er zum ersten Mal bei diesem Anblick nicht an Kerstin dachte. Pfeifend und von einem schwanzwedelnden Lukas begleitet brachte er die Brötchen, den Rest Honig und die verklebten Zeitungen in die Küche zurück, wo das Radio zu einem alten Song von Abba übergegangen war. Ring ring telephone ring...
Die Geschichte, die herauskam, würde Sue Wagner gefallen, da war er sich ganz sicher. Die Claudia, die er entwarf, war Modezeichnerin und hatte häufig mit männlichen Models zu tun. Damit war klar, daß der Mann ihrer Träume schon rein optisch einer gewaltigen Konkurrenz ausgesetzt war. Der Mann, der sich auf ihre Kontaktanzeige hin meldete - Martin nannte ihn Richard -, entsprach diesem Traumbild nicht im geringsten. Aber sie lernte ihn nicht sofort kennen. Bevor sie ihn treffen konnte, fuhr Richard zum Skiurlaub nach Tirol. Dort lag er dann fast zwei Monate mit einem komplizierten Schienbeinbruch im Krankenhaus. Briefe gingen hin und her, zuerst mit großem Abstand, am Ende täglich. Zwischen Sender und Empfänger knisterte es deutlich. Endlich das erste Treffen im Gartenlokal - zunächst eine schmerzliche Enttäuschung für Claudia, doch dann die Erkenntnis, daß dies der Mann ihrer Träume war, obwohl sie ihn ohne den Umweg über seine sinnlichen Briefe keines Blickes gewürdigt hätte.
Die Geschichte endete in einer heißen, ungestümen und doch zärtlichen Szene. Hier hatte Martin beim Schreiben das Gefühl, er gehe manchmal zu weit ins Detail, aber wenn er einzelne Worte oder halbe Sätze wieder löschen wollte, meinte er Sue Wagners Stimme zu hören: "Zerfließen... Hinweggeschwemmt werden... Überwältigt... Davonschweben..." Er ließ alle Einzelheiten in der Geschichte.
Schließlich spuckte sein altmodischer Nadeldrucker die achteinhalb Seiten aus. Er las alles noch einmal durch und ging damit zum Faxgerät hinüber. Doch dann besann er sich. Er nahm das Telefon ab und wählte ihre Nummer.
"Die Geschichte ist fertig", sagte er, als sie sich meldete. "Ist noch soviel Zeit, daß ich sie Ihnen vorbeibringen kann?"
"Wie lange brauchen Sie?" Das klang sehr geschäftlich.
"Keine halbe Stunde."
"Okay."
"Ihr Verlagshaus finde ich", sagte er. "Aber wo genau ist Ihr Büro?"
"Unwichtig", sagte sie. Sie schien zu lächeln und kam ihm dabei wieder auf diese seltsame Weise näher. "Ich bin um die Zeit selten an meinem Platz. Das ist der Augenblick für ein Eis auf der Caféterrasse unten am Haus."
"Da soll ich Sie finden?"
"Ich trage einen weißen Blazer", sagte sie, "und habe rote Locken."
"Und dunkle Augen", murmelte er.
"Wie bitte?"
"Ach, nichts."
Er brauchte vier Minuten, um ein Hemd notdürftig zu bügeln. Sechzehn weitere Minuten brachten ihn zum Verlag. Er fand sie sofort auf den Caféterrassen am Fluß. Mit gemischten Gefühlen ging er zwischen den Tischen auf sie zu. Was er sah, gefiel ihm zwar: Jawohl, rote Locken, dazu Grübchen und wirklich niedliche Ohren. Aber - ihre Augen leuchteten hellgrün, und ihre Nase war viel spitzer, als er gedacht hatte. Ihre Stimme hatte so voll und rund geklungen... Er hatte einen weichen, sinnlichen Mund erwartet. Ihrer sah herausfordernd und frech aus. Und als sie aus ihrer Zeitschrift aufblickte, ihn zum ersten Mal ansah und freundlich lachte, da erschien sie ihm merkwürdig fremd...
Moment, dachte er alarmiert, wie mag wohl ihre Vorstellung von mir gewesen sein? Während die Begrüßungsfloskeln hin und hergingen, schob er die Manuskriptseiten auf den kleinen, runden Tisch. Er strich nervös mit einer Hand seine Haare glatt und rückte einen Stuhl für sich zurecht. Hätte ich eine Krawatte tragen sollen? Findet sie meine Sandalen albern? Verkörpere ich einen Stil, den sie ablehnt?
"Wollen Sie sie gleich lesen?" fragte er.
"Ihre Geschichten kann ich doch praktisch unbesehen kaufen", sagte sie, und am Ton ihrer Worte erkannte er endlich die Frau aus dem Telefongespräch wieder.
"Ich hoffe, das heißt nicht, daß Sie sie wirklich gar nicht erst lesen", sagte er. "Es könnte doch..."
"Prego, signori?" Der Kellner stand neben ihm, ein Schönling mit der Ausstrahlung von Eros Ramazotti.
Martin war durch die Unterbrechung aus dem Konzept geraten. "Kaffee", sagte er halblaut und registrierte, daß seine Stimme unsicher klang. Außerdem bemerkte er in diesem Augenblick, daß auch Sue noch nicht bedient worden war. Er holte Luft und legte alle Energie in seine Stimme. "Nein, halt." Es war gut, das Kommando zu übernehmen. "Keinen normalen Kaffee. Einen Espresso für mich, bitte. Und die Dame..."
Noch Jahre später würde er sich an diesen Moment erinnern, in dem die Weichen gestellt wurden. Sue ebenso. Sie strahlte ihn an, während sie mit dem Kellner sprach.
"Für mich bitte Vanilleeis mit heißen Kirschen", sagte sie.
Copyright 1996 Gerhard Snitjer
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